Wir empfehlen ein Nichteintreten auf die Sammelklagen-Vorlage (Geschäft 21.082)
- Die Sammelklagen-Vorlage ist für die politische Beratung nicht reif.
- Der Bundesrat betrachtet das Thema der Streitbeilegung aus zu eingeschränkter Perspektive und fokussiert in seinem Vorschlag ausschliesslich auf ein bestimmtes Instrument im Prozessrecht. Dabei berücksichtigt er die Entwicklungen der letzten Jahre im Ausland, die neuen technologischen Möglichkeiten und mögliche Alternativen zur Sammelklage vor den Gerichten nicht.
- Die Schweiz tut gut daran, die Einführung solch weitreichender Instrumente basierend auf einer sorgfältigen Analyse der Ausgangslage und in Prüfung aller relevanter Faktoren zu beschliessen:
- Eine rechtsvergleichende Analyse: Jüngste Entwicklungen haben gezeigt, dass die Einführung neuer Sammelklagen-Instrumente in EU-Mitgliedstaaten zu erheblichen Umsetzungsschwierigkeiten geführt haben – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der neuen technologischen Möglichkeiten (Stichwort „Legal Tech“ wie Blockchain, Distributed Ledger, Social Media, Forderungssammlungsplattformen). Es liegt jedoch keine fundierte Analyse dieser Wechselwirkungen vor. Die Botschaft geht nicht über eine einfache deskriptive Beschreibung der angewendeten Instrumente des Prozessrechtes hinaus.
- Eine seriöse Regulierungsfolgeabschätzung: Die Durchsetzung von Ansprüchen auf dem Rechtsweg ist kostspielig. Gerade wenn kollektivierte Ansprüche eingeklagt werden, steigen die Prozesskosten und auch die Prozessrisiken. Dies gilt umso mehr, als dass es die Vorlage theoretisch ermöglichen würde, Klägerforderungen aus der ganzen Welt konzentriert vor einem Schweizer Gericht geltend zu machen. Die durch die Einführung der neuen Instrumente entstehenden volkswirtschaftlichen Kosten können erheblich sein, wurden aber nicht geprüft.
- Prüfung alternativer Streitbeilegungs-Instrumente: Aufgrund der hohen Aufwendungen für die Prozessfinanzierung geht man bei einem Zivilprozess von einem Streuverlust von 25-35 Prozent aus – Mittel, welche dann für die effektive Begleichung von Ersatzansprüchen der Betroffenen fehlen. Instrumente, welche auf dem traditionellen Schweizer Ansatz der obligatorischen Schlichtung basierend und durch Elemente der modernen technischen Infrastruktur kombiniert werden, dürften in der Rechtsdurchsetzung deutlich effizienter sein – solche so genannte alternative Streitbeilegungs-Instrumente hat der Bundesrat jedoch nicht in seine Überlegungen miteinbezogen.
Dies ergibt sich insbesondere mit Blick auf die nachfolgenden Aspekte:
Die Qualität des Schweizer Rechtssystems ist bereits heute im internationalen Vergleich überdurchschnittlich. Zudem wird die laufende und noch nicht abgeschlossene ZPO‑Revision (Geschäft 20.026; in der RK-N als vorberatender Kommission des Zweitrats) eine weitere Verbesserung des „Zugangs zum Recht“ bringen.
- Die Schweiz belegt in einem aktuellen Ranking der Weltbank „efficiency of legal framework in settling disputes“ in Bezug auf die Ausgestaltung und das Funktionieren der Gerichtsbarkeit sowie die Mechanismen der Streitbeilegung gemäss Zivilprozessordnung mit dem vierten Platz bereits heute einen Spitzenplatz.
- Die laufende und noch nicht abgeschlossene ZPO-Revision (Geschäft 20.026) wird eine weitere Verbesserung des „Zugangs zum Recht (bspw. Senkung der Kostenschranken, Vereinfachung der Verfahrenskoordination) zur Folge haben.
- Bereits unter geltendem Recht können Betroffene mittels bestehender Rechtsinstrumente wie Streitgenossenschaften ihre Ersatzansprüche für Massen– oder Streuschäden geltend machen, auch bei kleinen Schäden. Die Fortschritte der Technik, gerade auch im Bereich „Legal Tech“, werden die diesbezüglichen Möglichkeiten für Konsumenten in einem bisher noch nie da gewesenen Ausmass erweitern.
Die Nachteile von Instrumenten eines «echten» kollektiven Rechtsschutzes lassen sich nicht beheben. Die in der Botschaft des Bundesrates anvisierte «Entamerikanisierung» von Sammelklagen ist denn auch nicht möglich.
- Es gibt keinen «kollektiven Rechtschutz light»: Ein Blick ins europäische Ausland verrät, dass sich die wirklichen Nachteile von Instrumenten eines «echten» kollektiven Rechtsschutzes nicht beheben lassen. Die in den Niederlanden beispielsweise eingereichten Sammelklagen weisen oftmals eine internationale Dimension auf. Entweder ist die Klage die Kopie eine bereits in den USA eingereichten Begehrens oder eine in den Niederlanden domizilierte beklagte Partei wird als «Anker» missbraucht, um Parteien ausserhalb der Niederlande belangen zu können. Auch zeigt ein Blick etwa ins Vereinigte Königreich, die Niederlande und Deutschland, dass die dort möglichen Sammelklage-Instrumente eine Ansiedlung und ständige Ausweitung einer professionellen „Klageindustrie“ zur Folge haben. Das bewirkt eine eklatant andere, prozess- und streitsüchtige Rechtskultur. Sie nützt nachweislich den Klageprofis, gewährleistet jedoch keinen besseren Opferschutz und verursacht hohe volkswirtschaftliche Kosten, die von der gesamten Gesellschaft aufgebracht werden müssen.
- Sammelklagen würden einen grundlegenden Paradigmenwechsel im schweizerischen Recht bewirken. Der Zivilprozess geht in der Schweiz von der Individualität von Kläger und Beklagten aus, um den Einzelfall individuell zu beurteilen und zu einer gerechten Lösung zuzuführen, damit Rechtssicherheit geschaffen werden kann. Dies ist ein historisch gefestigter Grundsatz in unserem Rechtsystem. Vor diesem würde ohne Not abgewichen.
- Hinzu kommt, dass sich die prozessuale Durchsetzung nicht losgelöst vom materiellen Recht betrachten lässt. Dieses ist im Gesetzgebungsprozess in jeder Hinsicht sorgfältig auf die Auswirkungen für die betroffenen Gruppierungen abgewogen worden und ist das Resultat austarierter Kompromisse, welche durch die Einführung neuer Instrumente gefährdet werden.
Der aktuelle Vorschlag des Bundesrates ist nicht austariert. Zudem geht er in wesentlichen Punkten über die aktuelle Richtlinie der EU hinaus.
- Der Bundesrat sieht in seinem Vorschlag vor, dass auch Opt-out-Vergleiche künftig möglich sein sollen, die alle potenziell Geschädigten einschliessen. Auf diese Weise können sich sehr hohe angebliche Schadensbeträge ergeben, dies ohne den ausdrücklichen Willen der Geschädigten. Die EU-Richtlinie sieht beispielsweise solche Opt-out Vergleiche nicht vor.
- Im ursprünglichen ZPO-Entwurf wurde festgelegt, dass der klageberechtigte Verband oder die Organisation von «gesamtschweizerischer Bedeutung» sein muss. Dieses Kriterium ist mittlerweile nicht mehr Bestandteil des Vorschlages. Dies bedeutet, dass auch ausländische Organisationen ohne weiteres zu Klagen in der Schweiz zugelassen sind. Klägerforderungen aus der ganzen Welt können damit konzentriert vor einem Schweizer Gericht geltend gemacht werden – was den Prozessstandort Schweiz unnötig attraktiv macht und hohe Kosten und Risiken mit sich bringt.
- Gemäss Vorschlag des Bundesrates soll die Schweizer Verbandsklage in sämtlichen Rechtsgebieten möglich sein. Im Gegensatz dazu sehen hier einige EU-Mitgliedstaaten Beschränkungen vor.
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